Mittwoch, 21. August 2013

Eine gefährliche Gemengelage: Über Berlin-Hellersdorf und darüber hinaus. Zur Entwicklung der Asylbewerberzahlen und der damit verbundenen Herausforderungen

Bei vielen Menschen werden die aktuellen Ereignisse rund um ein Flüchtlingsheim im Berliner Stadtteil Hellersdorf schlimme Erinnerungen an das Jahr 1992 auslösen, als eine Welle fremdenfeindlicher Übergriffe Deutschland in Atem hielt. Die damaligen tagelangen Ausschreitungen in Rostock-Lichterhagen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten „Sonnenblumenhaus“ habe viele ältere Semestern noch schmerzhaft vor Augen. Sowohl die Asyldebatte als auch die Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und andere Einwanderer erreichten 1991/92 ihren Höhepunkt - und im Jahr 1993 wurde dann auf der Bundesebene sogar das Grundgesetz einschneidend hinsichtlich des Grundrechts auf Asyl von einer großen Koalition der Parteien geändert.

Nun also wieder das gleiche Spiel? Die Herausforderungen, vor denen sich die Stadt Berlin gestellt sieht, sind nicht singulär, sondern hier manifestiert sich eine Entwicklung, die derzeit viele Kommunen in Deutschland erleben und vor allem organisieren müssen: Einen doppelten Anstieg der Flüchtlings- und Zuwandererzahlen, zum einen aus Ländern der Europäischen Union (man denke hier an die Debatte über die Zuwanderung aus den Armenhäusern der EU, also Rumänien und Bulgarien), aber auch eine deutliche Zunahme der Asylbewerber aus anderen Ländern.

Zuerst ein Blick auf die Berliner Situation: »Hunderte neu eintreffende Flüchtlinge muss Berlin derzeit unterbringen. Mit 5.000 Neuankömmlingen rechnet die Stadt in diesem Jahr, so viele wie lange nicht. Weil alle Asylheime belegt sind, eröffneten zuletzt Notunterkünfte. Am Montag auch in Hellersdorf, im Osten der Stadt, in einem Plattenbaugebiet. Weil der Bezirk bisher wenige Flüchtlinge aufnahm und weil er leerstehende Gebäude hat. So wie das frühere Max-Reinhardt-Gymnasium, auch ein Plattenbau. Nun soll er zur Schutzstätte für Geflohene werden«, so Konrad Litschko in seinem Artikel "Flucht ins Feindesland". Seit Wochen macht eine "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" Stimmung gegen die Unterkunft, klagt gegen die Unterbringung. Die Gruppe tritt anonym auf, der Verfassungsschutz sieht sie von Rechtsextremisten beeinflusst. Auf Facebook sind die mit einer eigenen Seite präsent - selbstverständlich ist auch die "Gegenseite" aktiv, mit der Facebook-Seite "Hellersdorf hilft Asylbewerbern". Die Proteste gegen das Flüchtlingsheim ziehen gerade in Berlin natürlich linke und linksradikale Kräfte an, so dass es zu konflikthaften Auseinandersetzungen gekommen ist und weitere derzeit erwartbar sind - die Überschrift des Artikels "Eingekesselt zwischen Fremdenhass und Begrüßungsplakaten" bringt die Berliner Mischung zutreffend zum Ausdruck. Das geht sogar so weit, dass Monika Lüke (SPD), die Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, ein Demonstrationsverbot vor dem Flüchtlingsheim fordert (vgl. hierzu das Interview mit ihr im Deutschlandfunk: "Asylbewerber unter Polizeischutz").
Hintergrund des aktuellen Problems ist neben allen ideologisch motivierten Instrumentalisierungen des Themas auch ein grundsätzliches Dilemma: Wohnraum zu finden in einer Stadt, in der Wohnraum an sich, vor allem aber billiger Wohnraum, knapp und zunehmend umkämpft ist - zu den ganz praktischen Problemen, die damit verbunden sind, sei hier der Artikel über Stephan Djacenko empfohlen, der bei der Unterbringungsleitstelle in Berlin arbeitet und dessen Job es ist, Wohnrauzm für Flüchtlinge zu suchen - eine gleichsam herkulische Aufgabe: "Niemand will Flüchtlinge im Bezirk haben".

Verlassen wir nun in einem zweiten Schritt die Berliner Bühne im engeren Sinne und machen das Bild weiter auf. Seit einiger Zeit wird in den Medien immer stärker über eine erhebliche Zunahme der Asylbewerberzahlen berichtet und diskutiert. Deshalb ein Blick auf die Daten, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlicht.


Schaut man sich die lange Zeitreihe des BAMF zu den jährlichen Asylantragszahlen genau an, dann erkennt man den enormen Rückgang seit Mitte der 1990er Jahre - bis zum Jahr 2008, als nur noch 28.000 Asylanträge in Deutschland insgesamt gezählt wurden. Seitdem geht es aber wieder aufwärts. Im vergangenen Jahr waren es wieder über 77.000 Anträge. Und die Entwicklung im laufenden Jahr 2013 zeigt eine weitere erhebliche Zunahme. So berichtet das BAMF: »Im bisherigen Berichtsjahr 2013 nahm das Bundesamt 52.754 Asylerstanträge entgegen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 27.760 Erstanträge, was einen Zuwachs von 90 Prozent bedeutet. Auch die Zahl der Folgeanträge stieg im bisherigen Jahr 2013 gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum um 24,3 Prozent auf 7.084 Folgeanträge. Damit gingen im Jahr 2013 insgesamt 59.838 Asylanträge beim Bundesamt ein.« Auch hinsichtlich der "Erfolgsquote" der gestellten Asylanträge gibt es Daten: »Die Gesamtschutzquote für alle Herkunftsländer für das bisherige Jahr 2013 liegt bei 30,2 Prozent (11.772 positive Entscheidungen von insgesamt 39.027).« Schaut man sich die Herkunftsländer der Menschen an, die hier einen Asylantrag gestellt haben, dann werden Muster und Auffälligkeiten erkennbar: Die "Top-3-Länder" sind die Russische Föderation, Syrien und Afghanistan. 18.000 der 43.000 Erstanträge auf Asyl und damit mehr als 40 Prozent aller Asylanträge im ersten Halbjahr 2013 entfallen auf diese drei Länder.


Während Asylanträge von Menschen aus Syrien und Afghanistan sicher gut nachzuvollziehen sind, gibt es eine besondere Auffälligkeit: Die Zahl der Asylanträge von Menschen aus der Russischen Föderation belief sich im ersten Halbjahr 2013 auf 9.957, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es lediglich 898 - das bedeutet eine Steigerung im Vorjahresvergleich in der Größenordnung +1.009 Prozent! Ganz offensichtlich liegt hier ein von Schleuseraktivitäten gesteuerter Prozess vor. Zwischenfazit: Schaut man sich die allgemeinen Entwicklungen um uns herum an, dann ist es durchaus plausibel, davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten die Asylbewerberzahlen weiter ansteigen werden. Dies verweist auf die abschließend anzusprechende Frage, wie man konkret damit umgehen soll - und das heißt in diesem Fall immer konkret vor Ort, denn die Menschen müssen untergebracht und versorgt werden.

"Wo ein Heim, da Protest", so die taz zum Grundproblem, dessen besonders hässliche Ausformung wir derzeit in Berlin beobachten müssen.  Seit einem Rekord-Tief 2008 hat sich die Zahl der ankommenden Asylbewerber etwa verdreifacht. Auch wenn viele direkt wieder abgeschoben werden, müssen die Kommunen mehr Unterkünfte bereit stellen als bislang. Und wo ein Flüchtlingsheim eingerichtet wird, lassen die Proteste nicht lange auf sich warten. Die taz erinnert uns an aktuelle Beispielfälle:
  • »Im mecklenburg-vorpommerschen Wolgast etwa richtete die Stadt im Herbst 2012 ein erstes Flüchtlingsheim mitten in einer renovierten Plattenbausiedlung ein. Die Gemeinde wollte die Asylsuchenden ausdrücklich nicht am Stadtrand isolieren ... Das Heim wurde mit rechtsextremen Sprüchen beschmiert, die NPD kündigte einen Fackelzug an. Der NDR strahlte Szenen aus, wie Flüchtlingskinder im Hof spielten, während arbeitslose deutsche Nachbarn sie mit Liedern wie "Zick, Zack Kanackenpack, haut den Türken auf den Sack" beschallten.«
  • »Im gutbürgerlichen Berlin-Reinickendorf wehren sich Anwohner juristisch und auf Stammtischniveau gegen die neuen Nachbarn: Als acht Kinder im Flüchtlingsheim an Windpocken erkrankten, hingen überall Flugblätter, die vor Seuchengefahr warnten. Die Hauseigentümer haben nach Einzug der Flüchtlinge ihren Spielplatz eingezäunt und "melden" Heimbetreiber und Bezirk, wenn trotzdem Flüchtlingskinder darauf spielen. Sie wollen zudem juristisch erstreiten, dass das Heim wieder schließt.«
In der Regel wird dann protestiert, wenn Flüchtlinge zentral, also in Heimen untergebracht werden. Das Asylverfahrensgesetz sieht dies als Regelfall vor.

Aber wie heißt es so schön - keine Regel ohne Ausnahme. Die taz nennt ein Beispiel: »Leverkusen beispielsweise hat mit dezentraler Unterbringung gute Erfahrungen gemacht. Das Rezept: So früh wie möglich ziehen die Flüchtlinge in private Wohnungen ein - zu Mieten auf Hartz-IV-Niveau. Das als "Leverkusener Modell" bekannt gewordene Prinzip habe sich bewährt und sogar Geld gespart, betont die Gemeinde. Einige Städte wollten das Modell deshalb kopieren.« Wer sich für dieses Modell genauer interessiert, dem sei beispielsweise diese Folienpräsentation der Flüchtlingshilfe Lerverkusen empfohlen.

Allerdings - auch die taz ist nicht völlig unrealistisch: »Der Wohnraum im Niedrigpreissegment ist in vielen Städten knapp.« Und das wird das größte Problem für eine weitgehend dezentrale Lösung des Unterbringungsproblems. Da soll man sich keine Illusionen machen.

Sollte das Unterbringungsproblem in welcher Form auch immer gelöst sein, dann geht es um die Beantwortung einer weiteren Frage, um die sich die meisten Politiker gerne drücken: Wie halten wir es mit dem Arbeitsverbot für die Asylbewerber? Man kann es drehen und wenden wie man will - das mehrmonatige Arbeitsverbot sowie die weiterhin dann bestehenden "Vorrangprüfungen" schaffen Probleme, die dann im Alltag als Problem durch "die" Asylbewerber wahrgenommen und als solche bewertet werden. Hier kann es nur eine Antwort geben - auch wenn das natürlich immer mit der Gefahr "negativer Anreizeffekte" verbunden sein kann und wird: Schafft das Arbeitsverbot endlich ab.