Donnerstag, 19. September 2013

Themen, die man sich im Wahlkampf mehr gewünscht hätte: Das Drama Altersarmut ante portas?

Immer wieder mal wird die in Deutschland dominierende Berichterstattung über die "am besten gestellte Rentnergeneration" durchbrochen von Hinweisen auf eine drohende Welle an altersarmen Menschen, die in den vor uns liegenden Jahren auf uns zurollen wird. Glück und Unglück liegen bekanntlich im Leben immer dicht beieinander und so ist das auch im Rentensystem. Der von der Politik gerne herausgestellte Tatbestand, dass die Altersarmut unter den heutigen Rentnern (im Durchschnitt) so niedrig ist, hat eben auch und vor allem etwas mit der Erfolgsstory der "alten" Gesetzlichen Rentenversicherung und ihrer über Jahrzehnte sichergestellten Anbindung an die wirtschaftliche Entwicklung zu tun.

Aber diese "alte" Rentenversicherung wurde in den zurückliegenden Jahren, vor allem Anfang des neuen Jahrtausends, erheblich gestutzt, vor allem hinsichtlich des später erreichbaren Rentenniveaus - und die daraus resultierenden Probleme verbinden und verstärken sich mit und durch den Tatbestand, dass die Erwerbsbiografien vieler Menschen, unglücklicherweise vor allem der mit an sich schon niedrigen Einkommen und damit auch niedrigen Rentenansprüchen, seit den 1970er, vor allem aber seit den 1980er und 1990er Jahren immer brüchiger werden. Seit Ende der 1990er Jahre ist zugleich der Niedriglohnsektor erheblich angewachsen. Addiert und multipliziert man diese großen Entwicklungslinien, dann muss man keine Studien mehr machen, um zu wissen, zumindest aber qualifiziert zu ahnen, was uns an Sicherungsproblemen erwarten wird.

Gudrun Weitzenbürger ruft dieses Thema unter dem Titel "Ein Drama bahnt sich an" in der Wochenzeitung DIE ZEIT wieder auf. Und sie beginnt ihren Beitrag richtigerweise mit einem Hinweis auf das systematische Konstruktionsprinzip unserer gesetzlichen Rentenversicherung:

»Das Prinzip ist einfach: Wer nicht viel in die Rentenkasse einzahlt, bekommt auch nicht viel heraus ... Einer Verkäuferin, die 30 Jahre lang 30 Stunden in der Woche arbeitet, acht Euro pro Stunde verdient und von diesem Gehalt ihre gesetzlichen Rentenbeiträge zahlt, bleiben laut der Gewerkschaft ver.di im Alter bestenfalls 300 Euro im Monat zum Leben.«

Sie verbindet diese Beschreibung sogleich mit der Frage, ob es gerecht sei, dass es der Verkäuferin in ihrem Beispiel so wiederverfahren wird. Das aber vermischt zwei an sich schon sehr schwierige Fragen, die man in einem ersten Schritt besser voneinander trennen sollte. Denn sie weist auf eine der Grundprinzipien des Rentenversicherungssystem gleich zu Beginn hin - die Abbildung der Erwerbseinkommensposition, die der Versicherte während seines Erwerbslebens hatte, im späteren Rentenbezugssystem. Und dieses Prinzip besagt ja nicht nur, dass jemand, der ein höheres Erwerbseinkommen hatte (aus dem er oder sie dann auch mehr Beiträge abgeführt hat), einen höheren relativen Rentenanspruch hat, sondern natürlich muss nach dieser Logik einen Rentenanspruch geringer ausfallen, wenn die Betroffenen nicht Vollzeit, sondern "nur" Teilzeit gearbeitet haben.

Womit wir bei einer zentralen Größe des bestehenden Systems angekommen wären - es handelt sich um ein System, das dann besonders gut funktioniert, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind (die sich in der immer künstlicher wirkenden Figur des deutschen "Eckrentners" auskristallisieren): Eine über Jahrzehnte laufende, von keinen oder nur ganz kurzen Unterbrechungen charakterisierte sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit, in Vollzeit, in der man immer mindestens das durchschnittliche Arbeitsentgelt verdient haben sollte. In Zahlen: Wenn man 45 Jahre lang immer Beiträge eingezahlt und immer genau das durchschnittliche Einkommen der in der Rentenversicherung versicherten Arbeitnehmer verdient hat und nicht vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze in die Rente geht, dann bekommt man derzeit eine Brutto-Monatsrente von 1.137,02 Euro. Von der dann noch Abzüge, beispielsweise die Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung, fällig werden. Jetzt kann man sich sofort vorstellen, was passiert, wenn man eine der Voraussetzungen, die zu dieser "Standardrente" (die natürlich nicht die Durchschnittsrente ist) verletzt oder nicht erfüllen kann. Das bedeutet im Klartext, dass alle, die beispielsweise weniger als das Durchschnittseinkommen verdient haben (Stichwort Expansion des Niedriglohnsektors) oder die mehrere Jahre arbeitslos waren, per se keine Chance haben können, auf eine Rente zu kommen, die über dem Betrag liegt, der in der Grundsicherung für Ältere als Mindestsicherung bei Bedürftigkeit gezahlt wird.

Weitzenbürger macht das an einem der vielen Beispiele aus der Lebenswirklichkeit deutlich:

»Zum Beispiel Petra T. Sie ist Kinderpflegerin in einer Münchner Kindertagesstätte. Sie ist fest angestellt, arbeitet Vollzeit und verdient 2200 Euro brutto im Monat. Früher hat die 46-Jährige als Altenpflegerin gearbeitet, das war etwas besser bezahlt, doch diese Tätigkeit musste sie aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Um ihren 19-jährigen Sohn beim Studium unterstützen zu können, jobbt Petra T. zusätzlich an manchen Wochenenden und Feiertagen bei einer Zeitarbeitsfirma und verdient sich in verschiedenen Pflegeheimen ein paar Hundert Euro dazu. Angenommen Petra T. zahlt 35 Jahre lang von ihrem heutigen Gehalt in die gesetzliche Rentenkasse ein, bekommt sie im Alter im besten Fall 800 Euro heraus.«

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist eine Parallelwelt entstanden, in der eine Vollzeitstelle keine Garantie mehr dafür ist, im Alter abgesichert zu sein, so die Autorin in ihrem Beitrag. Das hängt zusammen mit der angesprochenen gewaltigen Expansion des Niedriglohnsektors, wobei wir hier über Menschen sprechen, die teilweise für Stundenlöhne von fünf oder sechs Euro (brutto) arbeiten müssen (eine Übersicht über die quantitative Ausformung der Niedriglohnbeschäftigung im Jahr 2011 findet sich im Report 2013-01 des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ): Im Jahr 2011 arbeiteten 23,9% aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter 9,14 € (bundesweite Niedriglohnschwelle). Das waren knapp 8,1 Mio. Menschen. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor lagen auch im Jahr 2011 mit 6,46 € in West- und 6,21 € in Ostdeutschland weit unter der Niedriglohnschwelle). Wenn wir schon mal bei Stundenlöhnen sind: Johannes Steffen hat berechnet, wie hoch eigentlich ein Mindestlohn sein müsste, um mit dem daraus resultierenden Gehalt bzw. einer daraus resultierenden Rente nach Vollzeitbeschäftigung und 45 Beitragsjahren das Existenzminimum decken zu können (Quelle: Johannes Steffen: Ein Mindestlohn für Arbeit und Rente - Erforderliche Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns, Bremen, April 2013):


Die Abbildung mit den von Steffen berechneten Mindestlohnstundensätzen verdeutlicht zugleich, auch welcher Ebene wir uns bewegen, wenn in der politischen Diskussion argumentiert wird, dass beispielsweise ein Mindestlohnniveau von 8,50 Euro nicht realisierbar sei - aus Sicht der durch die Eingriffe in die Rentenniveaumechanik erforderlichen Stundenlöhne für eine lediglich existenzsichernde Rente ist das ganz weit weg von den Sicherungsproblemen der Menschen.
Zugleich wird in dem Artikel von Weitzenbürger auf eine weitere Problemverschärfung hingewiesen, denn die vorgenommen Rentenniveauabsenkung sollte ja ursprünglich kompensiert werden durch eine freiwillige, aber mit viel Steuergeld geförderte private Altersvorsorge, denn sie weist hin auf »ein Problem, das alle Lohnklassen betrifft, aber für Menschen mit niedrigem Einkommen unlösbar geworden ist. Sie haben kein oder fast kein Geld übrig, um privat vorzusorgen, in der vagen Hoffnung, dass die Kapitalmärkte ihnen bis zum Alter ein ausreichend großes Sümmchen erwirtschaften werden, um ihre Vorsorgelücke zu schließen.« Und damit nicht genug, um das Bild abzurunden: »Nicht nur die ersten beiden Säulen der Altersvorsorge – gesetzlich und privat – tragen im Niedriglohnbereich nicht, auch betrieblich ist in diesen Lohngruppen nichts zu holen«, denn ihre Integration in die dritte Säule, also die betriebliche Altersvorsorge, ist marginal.

In der politischen Debatte gab es vor einigen Monaten eine Befassung mit dem Problem und einen Streit, wie man mit diesem Grundproblem umgehen sollte. Da wurden dann Zuschussrentenmodelle in die Welt gesetzt und mit blumigen Begrifflichkeiten versehen - beispielsweise "Lebensleistungsrente" oder "Solidarrente". Auch wenn es hier um Versuche geht, ein immer offensichtlicheres Gerechtigkeitsproblem zwischen einer zwar bedürftigkeitsabhängigen, aber letztendlich bedingungslosen Grundsicherung auf niedrigem Niveau und Renten, die durch eigene Beiträge erwirtschaftet worden sind, die aber unter diesem Niveau liegen, zu adressieren, immer offensichtlicher wird der Tatbestand, dass das gesamte System heiß zu laufen beginnt und dann auch als solches auf den Seziertisch der politischen Debatte gehört. Aber im auslaufenden Bundestagswahlkampf spielen diese Themen so gut wie keine Rolle. Das gleiche gilt ja auch für eine andere Mega-Baustelle der vor uns liegenden Jahre: die Pflege. Das wird sich rächen. Es wird viel Arbeit geben für die, die nach dem kommenden Sonntag endlich wieder arbeiten dürfen müssen sollten.