Donnerstag, 30. Januar 2014

Verloren auf dem Verschiebebahnhof der Sozialversicherungen und in der Unterversorgung. Der Weg psychisch kranker Menschen in die Frühverrentung

Die Rente ist derzeit ja inmitten der aktuellen sozialpolitischen Diskussion. Vor allem die Ausweitung der "Mütterrente" und die "Rente mit 63" werden kontrovers diskutiert. Da passt eine solche Meldung und stimmt einen nachdenklich: »75.000 Menschen sind im vergangenen Jahr wegen psychischer Erkrankungen in Frührente gegangen, das sind 25.000 Menschen mehr als vor zehn Jahren ... Im Durchschnitt sind die Frührentner, die ihren Job wegen einer psychischen Erkrankung aufgeben mussten, erst 49 Jahre alt - und mehr als ein Viertel gilt als arm. Eine Erwerbsminderungsrente beträgt durchschnittlich rund 600 Euro.« Die Überschrift zu dieser Meldung liefert schon eine (scheinbare) Erklärung für das, was hinter diesen Zahlen steht: Stress treibt Arbeitnehmer in die Frührente. Aber schauen wir genauer hin. Was ist hier los?

Die zitierten Zahlen sind einer Studie entnommen, die von der Bundespsychotherapeutenkammer in Auftrag gegeben worden ist - eine Kurzfassung der wichtigsten Ergebnisse findet sich in der Pressemitteilung "Fast jede zweite neue Frührente psychisch bedingt. BPtK-Studie zu psychischen Erkrankungen und Frührente".

Die Befundlage, die man der Studie entnehmen kann, ist deutlich: »Fast jede zweite neue Frührente ist inzwischen psychisch verursacht (42 Prozent). Dabei haben seit 2001 vor allem Depressionen (plus 96 Prozent), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (plus 74 Prozent) sowie Suchterkrankungen (plus 49 Prozent) als Grund zugenommen. Psychische Erkrankungen sind seit mehr als zehn Jahren die Hauptursache für gesundheitsbedingte Frührenten – mit großem Abstand vor körperlichen Erkrankungen.«

Der Weg, auf den viele Betroffene geschickt werden, lässt sich so zusammenfassen: "Erst arbeitsunfähig ... dann erwerbsunfähig":

Zur Arbeitsunfähigkeit:
»Psychische Erkrankungen sind immer häufiger die Ursache für Krankschreibungen von Arbeitnehmern. Auch 2012 stiegen sowohl der Anteil der Krankschreibungen (AU-Fälle) als auch der Anteil der betrieblichen Fehltage (AU-Tage), der psychisch bedingt ist. Der Anteil der AU-Tage hat sich von 2000 bis 2012 fast verdoppelt (plus 96 Prozent). Inzwischen gehen knapp 14 Prozent aller betrieblichen Fehltage auf psychische Erkrankungen zurück. Diese Zunahme ist vor allem auf die immer längere Dauer der Krankschreibungen zurückzuführen. 2012 fehlte ein psychisch erkrankter Arbeitnehmer durchschnittlich 34 Tage. Insgesamt fehlten 2012 Arbeitnehmer über 80 Millionen Tage in ih-ren Betrieben. Psychische Erkrankungen sind damit der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit nach Muskel-Skelett-Erkrankungen.«

Aber warum landen dann so viele dieser Menschen in der Erwerbsunfähigkeit?

»Wegen psychischer Erkrankungen müssen Arbeitnehmer weit vor dem gesetzlichen Rentenalter aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Ein Versicherter, der aufgrund einer psychischen Erkrankung in Rente gehen muss, ist durchschnittlich erst 49 Jahre alt. „Dass psychische Erkrankungen so häufig und so früh zu Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit führen, liegt auch daran, dass psychisch kranke Menschen nicht oder nicht rechtzeitig behandelt werden“, stellt BPtK-Präsident Richter fest. Psychisch kranke Menschen warten in Deutschland rund drei Monate auf einen ersten Termin in einer psychotherapeutischen Praxis. Viele geben bei der Suche nach einem Behandlungsplatz auf und bleiben unbehandelt. In Deutschland erhält überhaupt nur jeder dritte psychisch Kranke eine Behandlung.«

Also man kann den Ausführungen entnehmen, dass die Versorgungslage defizitär ist, als Problempunkte lassen sich identifizieren: Zu lange Wartezeiten, bis es zu einem Erstkontakt mit einem Therapeuten kommt und insgesamt bleiben viele Krankheitsfälle unbehandelt. Wir haben es hier also mit einer gravierenden Unterversorgung psychisch kranker Menschen zu tun. Das ist schon problematisch an sich, wird jetzt aber sozialpolitisch gedoppelt. Und das geht so:

Vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen erhalten zu selten oder nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Rehabilitationsleistungen, die ihnen die Rückkehr ins Arbeitsleben ermöglichen könnten. Auch hier sind die Daten mehr als eindeutig:

»Jeder zweite psychisch kranke Frührentner erhielt in den fünf Jahren vor dem Rentenbescheid keine Reha-Leistung. Und weniger als zehn Prozent der psychisch kranken Frührentner wurden eine medizinische oder berufliche Rehabilitation empfohlen. Die Zahl der Reha-Maßnahmen ist nicht im gleichen Maß gestiegen wie die Zahl der Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Erkrankungen. Im Jahr 2011 waren psychische Erkrankungen für rund 40 Prozent der neuen Frührenten verantwortlich. Aber nur 20 Prozent der Reha-Leistungen wurden für Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesetzt.«

Und dann geraten die betroffenen Menschen auch noch in einen veritablen Verschiebebahnhof unseres Sozialversicherungssystems. Wer sich für Pingpong-Spielereien auf Kosten von kranken Menschen interessiert, kann hier wieder einmal was lernen:

»Die Krankenkasse kann Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, aktiv auffordern, einen Reha-Antrag zu stellen. Wenn aber der Gutachter einer Reha keine „Erfolgsprognose“ bescheinigt, wird der Reha-Antrag automatisch zu einem Rentenantrag. Circa die Hälfte der Rentenanträge wird bewilligt. Werden Krankenversicherte zu Frührentnern, entfällt ihr Anspruch auf Krankengeld. Krankenkassen können somit Ausgaben für Krankengeld zulasten der Rentenversicherung sparen, wenn sie Versicherte, die schon lange krankgeschrieben sind, auffordern, einen Reha-Antrag zu stellen.
Der Antrag auf Reha-Leistungen wird von einem Gutachter geprüft, der entscheidet, ob eine medizinische und berufliche Rehabilitationsleistung Erfolg versprechend ist. Ein wichtiger Grund, der zu einer Ablehnung führt, ist, dass der Versicherte zunächst noch einer weiteren Krankenbehandlung bedarf. Der Versicherte wird damit von der Renten- zurück an die Krankenversicherung verwiesen.«

Quelle: Bundespsychotherapeutenkammer (2014)
Alles klar? Die Bundespsychotherapeutenkammer hat den Weg in die Armut, der mit der Frühverrentung der psychisch kranken Menschen verbunden ist, in einer sehr hilfreichen Ablaufgrafik nachgezeichnet, zugleich angereichert um die Forderungen, was man an den einzelnen Stellen tun sollte.

Es ist nachvollziehbar, dass der Weg der Frühverrentung für nicht wenige Betroffenen in der Verarmung endet - und zugleich wird auch die überdurchschnittliche Betroffenheit der Langzeitarbeitslosen hingewiesen:

»Die Erwerbsminderungsrenten sind seit 2000 stark gefallen. Ihre Höhe betrug 2012 durchschnittlich rund 600 Euro pro Monat. Mehr als ein Viertel der erwerbsunfähigen Rentner lebt in Einkommensarmut.
Auch Langzeitarbeitslose sind überdurchschnittlich häufig psychisch krank und von Armut bedroht. 37 Prozent der Hartz-IV-Empfänger (Arbeitslosengeld II) sind psychisch krank. Zum Vergleich: Bei den Berufstätigen sind nur 22 Prozent und bei den Empfängern von Arbeitslosengeld I 28 Prozent psychisch krank. Das heißt: Rund 1,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger sind psychisch krank.«

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) stellt vor diesem Hintergrund die folgenden Forderungen auf: 
  • bessere betriebliche Prävention und Früherkennung von psychischen Erkrankungen,
  • Abbau der Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie,
  • mehr Behandlungsplätze für psychisch Kranke,
  • eine bessere Abstimmung zwischen Kuration und Rehabilitation.
Darauf aufbauend fordert die BPtK eine bessere medizinische und berufliche Rehabilitation:
  • der Grundsatz „Reha vor Rente“ muss stärker befolgt werden,
  • Rehabilitationsleistungen für psychisch kranke Menschen müssen angepasst und bedarfsorientiert ausgebaut werden,
  • es darf keinen Automatismus vom Reha- zum Rentenantrag geben: Patienten müssen beteiligt und besser informiert werden,
  • Mitarbeiter von Arbeitsämtern sollten mehr Schulungen zu psychischen Erkrankungen erhalten.