Mittwoch, 30. November 2016

Zwischen Quantität und Qualität. Organisationen fordern in einem gemeinsamen Memorandum faire und sorgfältige Asylverfahren


Es kommen deutlich weniger Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland (durch). Noch vor einigen Monaten war das ganz anders. In der damaligen Dauer-Medienberichterstattung ging es auch immer um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dessen offensichtliche Überlastung bei der Bearbeitung der Asylanträge. Wenn schon die Erfassung der Flüchtlinge zeitweilig nicht mehr sichergestellt werden konnte, überrascht es nicht, dass viele Menschen monatelang warten mussten, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können und dann nochmals eine lange Zeit ins Land ging, bis eine Entscheidung getroffen wurde bzw. wird. Mittlerweile normalisieren sich die Systeme und man könnte annehmen, dass das auch für die Asylverfahren der Fall ist. Und das sollte ja auch der Fall sein, dieses Versprechen personifiziert der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, dem zusätzlich die Leitung des BAMF übertragen wurde, um genau diesen Zustand herbeizuführen - bewusst auf seinen Nimbus als Effizienzmaschine setzend. Nun haben wir das Ende des Jahres 2016 erreicht, in dem es eine vergleichsweise sehr überschaubare Zahl an Neu-Ankömmlingen gegeben hat, so dass sich auf der Asylverfahrensseite eine Menge entspannt haben müsste. Dennoch sind noch hunderttausende Asylverfahren offen und hinzu kommen dann solche Botschaften: »Deutsche Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen haben am Mittwoch in Berlin an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) appelliert, faire Asylverfahren für Flüchtlinge in Deutschland sicherzustellen«, berichtet Ralf Pauli in seinem Artikel Verbände fordern faire Asylverfahren. »Zeitdruck, politische Vorgaben, unerfahrene Mitarbeiter: Die Qualität der Asylverfahren ist für Pro Asyl, Diakonie & Co nicht mehr hinnehmbar.«

Die Organisationen, die sich mit einem gemeinsamen Memorandum zu Wort gemeldet haben, weisen auf "strukturelle Fehlentwicklungen" hin, die mit den politischen Rahmenbedingungen zusammen hängen. Was genau ist damit gemeint?

So seien Tausende "Anhörer" und "Entscheider" neu eingestellt, aber nur in zwei oder drei Wochen ausgebildet worden. Zudem stünden BAMF-Mitarbeiter unter Druck, eine hohe Zahl von Asylentscheidungen zu liefern. Das hängt auch damit zusammen, dass die Bugwelle der vielen Flüchtlinge aus der Vergangenheit erst mit einer teilweise monatelangen Zeitverzögerung im Asylverfahrenssystem aufschlägt und dort den vorhandenen Antragsstau weiter bestückt. Im Jahr 2015 ist die Zahl der Erstanträge auf 441.000 gestiegen. 2016 wurden bis September sogar 643.000 Asylanträge gestellt. Mehr als eine halbe Million Anträge sind noch nicht entschieden.

Mit Frank-Jürgen Weise als neuen BAMF-Chef sei eine „andere Denke“ in die Nürnberger Zentrale eingekehrt, wird Katharina Stamm von der Diakonie Deutschland in dem Artikel von Ralf Pauli zitiert. Die neu eingerichteten Entscheidungszentren hätten Vorgaben, eine bestimmte Zahl an Asylanträgen pro Tag zu entscheiden. Dies führe „in vielen Fällen“ zu eklatanten Fehlentscheidungen.
In dem Artikel wird versucht, das Problem an einem Beispiel zu verdeutlichen:

»So haben beispielsweise eine von den Taliban bedrohte Afghanin und deren Familie bei einer Anhörung bei der BAMF-Außenstelle Ingelheim/Bingen ihre Fluchtgründe dargelegt und wurden abgelehnt. „Aus dem Sachantrag der Antragsteller ergibt sich weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung, noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal“, hieß es in der Begründung.
Die zwölf Verbände – darunter auch Amnesty International, der Deutsche Anwaltsverein oder die Caritas – kritisieren, dass der Bescheid aus reinen „Textbausteinen“ zur angeblich sicheren Lage vor Ort bestehe, die die individuelle Gefahrensituation für das afghanische Ehepaar vor Ort schlicht ignoriere und relevante Sachverhalte fehlerhaft darstelle. So wird die Hebamme als Sunnitin und Tadschikin bezeichnet, obwohl sie Schiitin und Hazara ist.
Die Taliban hatten die geflüchtete Hebamme beschuldigt, absichtlich eine Totgeburt bei der Frau ihres lokalen Anführers herbeigeführt zu haben. Auch ihr Mann wurde bedroht, weil er für die afghanische Polizei gearbeitet hat. All dies hat die Afghanin dem Anhörer erzählt. Dennoch wurde die Einzelfallgeschichte in der Entscheidung nicht berücksichtigt.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das ein typisches Einzelbeispiel sei, bei dem der Mitarbeiter des BAMF eben schlecht gearbeitet hat. Aber so einfach kann man es sich nicht machen, denn die Organisationen - darauf wurde bereits hingewiesen - machen den Vorwurf, dass es um "strukturelle Fehlentwicklungen" geht, die hier nur beispielhaft erkennbar werden. Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, versucht das so einzuordnen: Das Ergebnis der Nicht-Berücksichtigung des Einzelfalls bettet sich in eine Praxis ein, dass Anhörer und Entscheider nicht mehr wie früher üblich ein und dieselbe Person seien. »Unter dem BAMF-Chef Weise sei die Trennung nun flächendeckend. So könne auch eine sorgfältige Anhörung zu fehlerhaften Entscheidungen führen.«

Das wird einen nicht wirklich überraschen, wenn man weiß, wie Weise in der BA die maßgeblich von Unternehmensberatern entworfenen Modelle einer Arbeitsteilung (im Sinne einer Zerlegung einzelner Arbeitsprozesse) mit dem Ziel, mehr in weniger Zeit machen zu können, umgesetzt hat. Mit durchaus vergleichbaren Qualitätsproblemen gerade im Bereich der Arbeitsvermittlung.

Die Organisationen beklagen weitere Missstände im Asylverfahren: »So werden Dolmetscher mit 25 Euro die Stunde gering vergütet, gleichzeitig aber werde deren Leistung ungenügend kontrolliert. Zudem erheben BAMF-MitarbeiterInnen im Asylverfahren keine Beweismittel und beraten AsylbewerberInnen mangelhaft über deren Rechte und Pflichten. Auch fehle es an BAMF-internen Beschwerde- und Kontrollmechanismen.«

Nun könnte auch hier ein Einwand lauten, dass das eben eine Kritik sei, die von "interessierter Seite" an das BAMF gerichtet wird. Aber selbst aus dem BAMF kommen entsprechende Belege, so schon in dem Artikel Bamf-Experten entsetzt über mangelhafte Qualitätskontrolle:

»Fachleute des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kritisieren ... in einem internen Papier die mangelhafte Qualitätssicherung der Asylverfahren. Im vergangenen Jahr habe das hierfür zuständige Referat bei gerade mal ein Prozent der 282.700 Asylentscheidungen stichprobenartig überprüfen können, ob die jeweilige Entscheidung korrekt war ... Die Beschleunigung der Verfahren und die große Zahl neuer, unerfahrener Mitarbeiter in der Behörde könnten nun zu einer "signifikanten Ausweitung" von Problemen führen. Um nicht zu einer reinen "Alibifunktion" zu verkommen, müsse die Qualitätssicherung dringend aufgestockt und verbessert werden.«

Da muss der Blog-Beitrag Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Spannungsfeld von Bürokratie, Weises betriebswirtschaftlicher Weltsicht und menschlichen Schicksalen vom 3. Juli 2016 wieder aufgerufen werden, denn dort wurde bereits ausgeführt:

Es »geht hier um eine Behörde mit ihren Besonderheiten, die nicht nur, aber eben auch damit zu tun haben, dass es gerade nicht um die Optimierung oder Effizienzsteigerung bei der Verteilung von Paketen oder der Beschleunigung von Tötungsprozessen in Schlachthöfen geht, sondern um die Frage, ob einem Menschen Asyl gewährt wird oder nicht, ob jemand geduldet werden muss, weil die eigentlich anstehende "Rückführung" möglicherweise den Tod für den Betroffenen bedeuten könnte. Oder weil das Herkunftsland ihn nicht (mehr) haben will.
Und das BAMF ist eingeklemmt in einen letztendlich nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Masse und Einzelfall. Die notwendigerweise (eigentlich) gegebene Orientierung auf das Individuum mit seiner Geschichte und den im Regelfall nur in formalen Bruchstücken (wenn überhaupt) vorliegenden Identitäten bedingen etwas, was der Todfeind aller industriellen, auf einen Standard normierten Hochleistungsprozesse per se ist: einen erheblichen Zeitbedarf bei der Abklärung der fragmentierten Existenz und ihrer (Nicht-)Ansprüche, die Möglichkeit einer fundierten Prüfung der Umstände, die ausführliche Begründung der Entscheidung, die Gewährleistung eines rechtsstaatlich garantierten Überprüfungsanspruchs des für die Betroffenen existenziellen Urteils.«

Das Memorandum der zwölf Verbände und Organisationen kann man sich hier im Original anschauen:

Amnesty International et al. (Hrsg.) (2016): Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland. Standards zur Gewährleistung der asylrechtlichen Verfahrensgarantien, November 2016

Die Forderungen, was aus Sicht der Organisationen zu tun wäre, finden sich auf den Seiten 33 ff. des Memorandums. Sie beziehen sich auf die Anhörung, den Bescheid und die Rahmenbedingungen der Arbeit im BAMF.

Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Forderungen und Handlungsempfehlungen auch nur ansatzweise umgesetzt werden, ist nicht wirklich hoch anzusetzen, denn zum einen geht es auf der politischen Ebene vor allem darum, den Antragsstau so schnell wie möglich aufzulösen und die Fälle vom Tisch zu bekommen, andererseits ist die Institution BAMF schon damit konfrontiert, dass seitens der Politik  die Wahrnehmung transportiert wird, nun sind doch die ganzen Stellen, die man dem BAMF bewilligt hat, eigentlich wieder einsparfähig, weil doch die Flüchtlings- und Asylzahlen so stark zurückgegangen sind. Die damit verbundene Unsicherheit innerhalb des Apparats trägt sicher nicht dazu bei, dass die Qualität der Arbeit deutlich gesteigert wird.