Dienstag, 7. März 2017

Flaschenhals Leitung. Die Kindertageseinrichtungen und ihre (nicht vorhandenen oder oft kurz gehaltenen) Leitungskräfte. Und wie es sein sollte


In den vergangenen Jahren war der Ausbau der Kindertagesbetreuung vor allem in Westdeutschland bei den unter dreijährigen Kindern immer wieder Gegenstand teilweise extrem kontroverser und emotionalisierter Debatten. Nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz zum August 2013 ist es dann wieder ruhiger geworden um das Thema, lediglich kurz unterbrochen von den Wochen des Kita-Streiks im Jahr 2015 (vgl. dazu u.a. den Beitrag Erzieherinnen als "Müllmänner 2.0"? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015). Das heißt aber noch lange nicht, dass jetzt alles gut ist - wenn, dann vielleicht in der Wahrnehmung der politisch Verantwortlichen, die den Eindruck haben, das Thema wäre vom Tisch. Für viele Eltern stellt sich die Situation ganz anders dar - sie müssen die teilweise sehr ernüchternde Erfahrung machen, dass ein Rechtsanspruch nicht immer auch bedeutet, dass daraus auch eine Realität wird (vgl. dazu beispielsweise den Artikel Wenn die Kita zwölf Kilometer entfernt ist). Und viele Kommunen müssen das "ausbaden", was man ganz oben eingeführt hat, denn die Umsetzungsverantwortung liegt bei ihnen und viele Kommunen machen die Erfahrung, dass sie es beim "Bedarf" an Kita-Plätzen mit einem "beweglichen Ziel" zu tun haben, dass also der Bedarf deutlich größer ist als angenommen bzw. unterstellt und gerade dort, wo bereits erhebliche Kapazitäten aufgebaut wurden, der Bedarf weiter zunimmt.

Man nehme nur als ein Beispiel die Situation in der Hauptstadt Berlin. In Berlin gibt's fast keine Kita-Plätze mehr, so ist einer der vielen Artikel überschrieben. »Wie schnell der Bedarf wächst, zeigt ein Vergleich zwischen 2014 und 2015: In nur einem Jahr kamen rund 10.000 unter Siebenjährige hinzu. Inzwischen sind es mehr als 241.000. In derselben Zeit stieg die Zahl der Kitakinder um mehr als 5000.« Derzeit gibt es in Berlin knapp 154.000 Plätze. Die Aufgabe ist gewaltig: Es werden rund 140 zusätzliche Kitas benötigt, für die Bauplätze aber erst noch gefunden werden müssen.

In den vergangenen Jahren hat es eine enorme Expansion der in den Kitas Beschäftigten gegeben. Die Entwicklung der Beschäftigung in den Kindertageseinrichtungen verdeutlicht die Abbildung am Anfang des Beitrags. »Von 1990/91 bis 2015 ist die Anzahl aller Beschäftigten bundesweit um 78% auf insgesamt rund 642.300 gestiegen. Ein deutlicher Personalzuwachs ist insbesondere seit 2006 zu beobachten. Seitdem wurden rund 227.300 (+55%) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kitas eingestellt«, kann man dem Fachkräftebarometer Frühe Bildung entnehmen. Und auch die Kitas haben sich verändert - die Kinder kommen heute in deutlich jüngeren Jahren in die Einrichtung, sie bleiben oftmals länger in der Kita und die Öffnungszeiten haben sich von den Betreuungszeiten der Kinder entkoppelt. Gleichzeitig hat sich das Personal von der Menge her in vielen Kitas vergrößert (auch durch andere Personalschlüssel aufgrund der Kinder unter drei Jahren) und der Anteil der Teilzeitbeschäftigten unter den pädagogischen Fachkräften hat weiter zugenommen. Hinzu kommt eine sehr hohe Erwartungshaltung seitens vieler Eltern und der Politik aufgrund der "bildungspolitischen Aufladung" der Kitas. Das alles muss organisiert werden.


An dieser Stelle sind wir bei den Leitungskräften in den Kindertageseinrichtungen angekommen, denn die müssen genau das leisten. Müssten, sollten - aber das können sie natürlich nur, wenn sie dazu auch in die Lage versetzt werden, also konkret: für diese Leitungsaufgaben anteilig oder ganz freigestellt werden von der Arbeit an und mit den Kindern.

Und hinsichtlich der eigentlich erforderlichen Leitungsfreistellung sieht es schon seit Jahren mehr als bescheiden aus, was ebenfalls seit Jahren immer wieder beklagt wird. Dabei ist die Bedeutung der Leitungsarbeit und damit der Leitungskräfte nicht hoch genug einzuschätzen, denn die Leitungskräfte sind nicht nur dazu da, den Laden am Laufen zu halten, sondern wir wissen aus der Forschung gesichert, dass sie eine entscheidende Bedeutung haben für die (Nicht-)Qualität der konkreten Einrichtung. Vgl. dazu umfassend Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (Hrsg.): Leitung von Kindertageseinrichtungen, München 2014.

Nun hat die Bertelsmann-Stiftung einen genaueren Blick auf die Situation der Leitungskräfte geworfen und zugleich berechnet, wie es eigentlich sein sollte, aber (noch?) nicht ist: Kita-Leitungen fehlt Zeit für Führungsaufgaben – Qualität leidet, so ist der Bericht über die neue Studie überschrieben. »Für Pädagogik, Personal, Budget und Elterngespräche fehlt den Leitungskräften durchschnittlich etwa die Hälfte der eigentlich notwendigen Zeit.« Und die Situation unterscheidet sich bereits zwischen den Bundesländern ganz erheblich.

Zur Bewertung zu wenig oder ausreichend braucht man einen Maßstab. Nach diesem Maßstab »sollten jeder Kita unabhängig von ihrer Größe 20 Stunden pro Woche für Führungsaufgaben zur Verfügung stehen. Für jedes rechnerisch ganztags betreute Kind sollten zusätzlich 0,35 Stunden wöchentlich hinzukommen, um die Mehrarbeit bei einer wachsenden Kita-Größe bewältigen zu können. Das bedeutet: In einer Kita mit 30 Kindern hätte eine Leiterin 30,5 Wochenstunden, um mit Eltern und externen Partnern zusammenzuarbeiten oder am Kita-Konzept zu feilen. Fast doppelt so viele Leitungsstunden würden einer Einrichtung mit 115 ganztags betreuten Kindern zur Verfügung stehen.«

Fangen wir mit den "guten" Kitas an, gemessen an diesen Vorgaben: »Nur 15 Prozent der mehr als 51.000 Kitas in Deutschland erfüllen derzeit unsere Empfehlungen.«

Nu in jeder zweiten Kita in Deutschland ist wenigstens eine halbe Stelle für Leitungsaufgaben vorhanden. »Allen anderen knapp 25.000 Kitas in Deutschland steht noch nicht einmal der von uns empfohlene Sockel von 20 Leitungsstunden zur Verfügung. Fast 11 Prozent der deutschen Kitas haben sogar überhaupt keine zeitlichen Ressourcen für Leitungs- und Verwaltungsaufgaben. Davon betroffen sind vor allem kleinere Einrichtungen. Jeder vierten Kita mit weniger als 40 Plätzen steht keinerlei Zeit für Leitung und Verwaltung zur Verfügung.«

Wir krass die Unterschiede sind zwischen den Bundesländern verdeutlicht dieser Passus:

»Überhaupt keine zeitlichen Ressourcen haben in Bremen 28 Prozent der Kitas, in Sachsen-Anhalt und Thüringen hingegen nur knapp 1 Prozent. Und während in Hamburg jede zweite Kita unsere Empfehlungen erfüllt, erreichen in Thüringen nur 3 Prozent der Kitas den empfohlenen Wert. Nicht viel besser ist die Lage in Sachsen-Anhalt (4 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (5 Prozent) und Bayern (6 Prozent).«

Bundesweite Standards sind nicht nur angesichts der Bedeutung der Leitungsarbeit, sondern auch vor dem Hintergrund dieser massiven Streuung unabdingbar. Aber man kann sich vorstellen, dass das angesichts der Unterausstattung eine Menge zusätzliches Personal und - keine Überraschung - zusätzliche Finanzmittel erfordern würde, um den Standard flächendeckend erreichen zu können.  Auch das hat die Bertelsmann-Stiftung dankenswerterweise berechnet:

»Um den Standard zu erreichen, ist vor allem eines notwendig: mehr Personal. Für die Leitungsebene fehlen umgerechnet 21.800 Vollzeitkräfte in Deutschland. Würde man sie einstellen, würden die Personalkosten bundesweit um jährlich bis zu 1,3 Milliarden Euro ansteigen. Das entspricht in etwa 5 Prozent der öffentlichen Ausgaben für die Kindertagesbetreuung.«

Wenn das jetzt dem einen oder anderen viel vorkommt: Der von der Bertelsmann-Stiftung berechnete Idealzustand bei der nötigen Zeit für das Führungspersonal liegt sogar noch unter der Forderung des Bundesfamilienministeriums. Dieses berücksichtigt bei der Berechnung der für Leitungsaufgaben nötigen Zeit in Kitas auch Faktoren wie Mitarbeiterzahl und soziales Umfeld (vgl. dazu Kitaleitern fehlt Zeit für Führungsaufgaben). Gerade der letzte Punkt ist von enormer sozialpolitischer Bedeutung, wenn man berücksichtigt, wie groß die Heterogenität zwischen den Kitas ist, die ja im Regelfall Kinder versorgen aus ihrem räumlichen Umfeld. Insofern wären Kitas in "schwierigen" Stadtteilen grundsätzlich mit mehr Fachkräften auszustatten, aber auch die Managementfunktionen sind hier nochmals anspruchsvoller und ressourcenintensiver als in einer Kita, die sich in einem Wohngebiet befindet, in dem vor allem gut situierte Kinder leben.

Hierzu als ein Beispiel von vielen der Artikel 100 Kinder, 37 Nationen, zu wenig Geld, der über eine Studie der Hochschule Niederrhein berichtet, nach der die (meisten) Kitas mit den Landespauschalen in Nordrhein-Westfalen finanziell nicht über die Runden kommen (können). Auch hier taucht die Leitungsfrage wieder auf:

»Sabine Howaldt muss nicht lange überlegen. Was sie sich als Leiterin einer evangelischen Kindertagesstätte in Essen wünschen würde? "Dass die Träger finanziell besser ausgestattet werden." Dann, so die 61-Jährige, könnte sie sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren und müsste nicht noch stundenweise in den Gruppen tätig werden. "Ich leite schließlich ein mittelständisches Unternehmen; bei uns sind 100 Kinder aus 37 Nationen", sagt Howaldt.«

Aber schlussendlich muss auf eine weitere Baustelle hingewiesen werden: Selbst wenn die Politik sich entscheiden würde, dass man nicht nur die Leitungsfrage lösen, sondern auch die seit Jahren geforderten besseren Personalschlüssel für die Arbeit an und mit den Kindern  zur Verfügung stellen will - es fehlt in vielen Gegenden schlichtweg an qualifiziertem Personal. Der bisherige Ausbau und der damit verbundene personelle Mehrbedarf (wohlgemerkt, auf Basis der aus fachlicher Sicht zu schlechten Personalschlüssel) konnte noch mehr oder weniger erfolgreich gemeistert werden. Aber woher das Fachpersonal kommen soll, wenn a) der quantitative Ausbau weitergehen muss, weil die Bedarfe der Eltern weiter ansteigen und b) dann auch noch zusätzliches Personal erforderlich wird, um die Qualität zu steigern, dass kann derzeit wohl kaum einer schlüssig beantworten.

Abbildung: Fachkräftebarometer Frühe Bildung. in Projekt der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte; www.fachkraeftebarometer.de/personal/beschaeftigte/ (Abruf am 07.03.2017)